Adisa ist 7 Jahre alt und das jüngste von drei Geschwistern einer afrikanischen Familie, die ich betreue. Am Anfang meines Auftrages vor einigen Monaten hatte Adisa fast noch etwas Kleinkindhaftes an sich. Doch im Moment wird sie mit jeder Woche mädchenhafter. Sofern ich noch eine Weile bei der Familie bleibe, kann ich sie sogar ein wenig aufwachsen sehen. Das würde mich sehr freuen. Adisa lernt gerade schreiben. Ganz langsam malt sie die großen Buchstaben in ihr Heft und bemüht sich, richtig ordentlich zu schreiben. Das gefällt mir als Nachhilfelehrerin natürlich und ich lobe sie dafür. Überhaupt hat Adisa etwas wirklich Niedliches an sich, sie wird bestimmt einmal eine hübsche Frau. Und ich freue mich immer auf den Unterricht mit ihr, weil sie so bemüht und lernfreudig ist. Das macht dann immer richtig Spaß. Doch am meisten hat mich berührt, was letzte Woche geschehen ist: Es läutete an der Wohnungstür und Adisas Bruder, den ich immer nach ihr unterrichte, öffnete die Tür. Ein junger Mann schob einen Rollstuhl in der Flur – so viel konnte ich von meinem Platz aus sehen. ‘’Der ist für meinen Papa’’, erklärte Adisa, ohne daß ich überhaupt gefragt hätte. Ich weiß ja, dass es einen Mann geben muss, denn wir hatten das erste Telefongespräch geführt, wo die Nachhilfe für die Kinder vereinbart worden war. Allerdings habe ich den Vater noch nie gesehen, er ist nie vor Ort, jedenfalls nicht, wenn ich unterrichte. Es ist immer die Mutter, die dann irgendwann von der Arbeit nach Hause kommt und nach dem Unterricht ein paar Worte mit mir wechselt. Und sie scheint die drei Kinder ganz allein großzuziehen. ‘’Der Rollstuhl ist für deinen Papa?’’ fragte ich nun doch. ‘’Ja’’, bestätigte Adisa, ‘’weil er so kranke Hüften hat. Aber er ist grad verreist und kommt erst Ende des Monats zurück. Und wenn er hier ist, wird er wieder operiert, ich glaube, das siebte Mal.’’ ‘’Au Mann, das tut mir aber leid für ihn’’, sagte ich. ‘’Ja, das ist nicht schön’’, fuhr Adisa fort. ‘’Aber wenn ich groß bin, werde ich Ärztin und dann kann ich meinem Papa bestimmt helfen.’’ Ich schluckte kräftig, der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. ‘’Das ist eine sehr gute Idee’’, sagte ich etwas gepresst und bemühte mich, mit dem Unterricht fortzufahren. Vergessen werde ich dieses Gespräch bestimmt nie und ich bin mir sicher, Adisa wird einmal eine hervorragende Ärztin werden.
Er war 12 und kam mit seiner Mutter zum Vorgespräch in unsere Nachhilfeschule. Er war blaß und nervös und traute sich kaum, jemandem direkt in die Augen zu sehen. Er tat mir sehr leid. Ich arbeitete damals als Nachhilfelehrerin für Deutsch und Englisch und sollte den Jungen anschließend im Fach Deutsch übernehmen. Die Mutter erklärte ausführlich, weshalb ihr Sohn Nachhilfe erhalten solle. Er gehe auf eine Walldorfschule und tue sich mit der deutschen Sprache sehr schwer. Je mehr die Mutter erzählte desto mehr sah der Junge nur nach unten. Endlich ging mein Kollege und die Mutter in das Büro nebenan, um die Vertragsformalitäten zu klären. Der Junge und ich waren allein. ‘’Wie heißt du denn?’’ fragte ich. ‘’Mike’’, kam es verstockt und sehr leise zurück. Und dann begann er leise zu weinen. Wieder tat er mir unendlich leid und ich fragte mich, wie ich ihn irgendwie aufheitern könnte. ‘’Du willst eigentlich überhaupt nicht hier sein, richtig?’’ fragte ich ihn leise. Endlich sah er hoch. Zwei große verweinte Augen sahen mich an. ‘’Nein.’’ ‘’Aber vielleicht kann ich dir ja wirklich helfen’’, entgegnete ich. Er zuckte unbeteiligt die Schultern. ‘’Komm, jetzt weine mal nicht, zeig mir doch einfach mal, was du da an Heften mitgebracht hast’’, fuhr ich fort. Irgendwo mußte ich schließlich anfangen. Zögernd griff er nach einem der auf dem Tisch liegenden Hefte und gab es mir. Ich schlug es auf. Da gab es seitenweise Diktate und Aufsätze und bereits beim kurzen Überfliegen fiel mir auf, wie klein und zaghaft er schrieb. Seine Schrift sah genauso verängstigt aus wie er es selbst zu sein schien. Auch beschrieb er nie die ganze Seite, sondern versuchte, alle Worte irgendwo an den oberen linken Rand zu quetschen, wodurch man dann gar nichts mehr entziffern konnte. Und leider auch Fehler über Fehler... Da liegt ein ganzes Stück Arbeit vor mir, dachte ich so im Stillen und blätterte weiter. Mike saß noch immer völlig steif neben mir und starrte gebannt auf den Tisch. ‘’Also’’, begann ich. ‘’Wir fangen jetzt mal ganz langsam an und tasten uns dann allmählich vor. Schreib mir doch für den Moment nur einmal kurz das Alphabet auf, und zwar links untereinander die Großbuchstaben und rechts untereinander die kleinen.’’ Mike nahm einen Füller zur Hand und begann zu schreiben. Nein, schreiben, das wäre das falsche Wort, er malte die Buchstaben regelrecht. Fein säuberlich malte er jeden Buchstaben ganz langsam auf das Blatt. Es dauerte somit natürlich eine ganze Weile bis er das Alphabet durch hatte, aber er schaffte es. Und dann war die erste Unterrichtsstunde auch schon fast um. ‘’Siehst du, das hast du richtig gut gemacht’’, lobte ich ihn, während er seine Sachen in einem großen Rucksack verstaute. ‘’Und das nächste Mal machen wir genauso langsam weiter, ok?’’ Mike sah mich an und zum ersten Mal an diesem Abend lächelte er. ‘’Tschüß, bis nächste Woche!’’ entließ ich ihn und freute mich, daß Mike nun wenigstens keine Angst mehr hatte und vor lauter Verzweiflung weinte. So vergingen einige Wochen und Mike machte gute Fortschritte. Dennoch war es für mich immer ein wenig schmerzlich mitansehen zu müssen wie ein 12-jähriger Junge so schlecht im Schreiben und Lesen war. Ich gebe ja wirklich zu, daß die deutsche Sprache nicht nur schwierig, sondern zuweilen auch unlogisch ist. Aber Mike mußte da durch, ob wir wollten oder nicht! Und dann kam eine Stunde, die ich nie vergessen werde. Mike mußte eine Geschichte nacherzählen, die in Stichpunkten von der Lehrerin vorgegeben war. Und ich weiß noch heute, daß ich dachte: Oh, Gott! Ob er das wohl schafft? ‘’Ok, Mike, erzähl mir doch die Geschichte einfach erst und dann schreiben wir sie auf’’, begann ich. Mike nickte und begann zu erzählen. Und dann geschah etwas Wunderbares: Ich hörte ihm zu und spürte wie ihn selbst die Geschichte gefangen nahm. Er erzählte total spannend, gestikulierte dabei mit den Armen und in seinen Augen gab es ein Funkeln, das ich zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. Ich war wie gebannt. Dann war er am Ende der Geschichte angekommen und meine Erstarrung löste sich langsam. ‘’Mensch, Mike, du kannst richtig gut erzählen, das wußte ich ja gar nicht’’, lobte ich ihn. Mike strahlte. ‘’Na, dann’’, fuhr ich fort, ‘’schreiben wir die ganze Geschichte einmal auf.’’ Mike wurde einige Wochen später leider in einen von seiner Schule einberufenen Sonderkurs gesteckt, so daß wir Abschied voneinander nehmen mußten. Doch in einem bin ich mir sicher: Aus Mike wird bestimmt einmal ein Schriftsteller. Er braucht vielleicht jemanden, der seinen Roman aufschreibt, aber erzählen... das kann er!
Daniel konnte weder richtig schreiben noch rechnen. Ich bin ja eigentlich Nachhilfelehrerin für Deutsch, aber in seinem Fall machte ich eine Ausnahme. Daniel war 12 Jahre alt und hatte Mühe, 5 x 6 auszurechnen. Aufgaben mit Pluszeichen gingen so lala, aber... ‘’Minus mag ich gar nicht’’, eröffnete er mir gleich zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde. ‘’Aha’’; sagte ich. ‘’Aber was machst du denn, wenn du im Laden stehst und nicht weißt, wieviel Du für dein Geld einkaufen kannst, weil du nicht ausrechnen kannst, ob es reicht?’’ Daniel zuckte die Schultern. ‘’Aber ohne zu rechnen kannst du doch nicht durch’s Leben gehen’’, fuhr ich fort. ‘’Dir kann ja praktisch jeder etwas vormachen. Zum Beispiel: Da kommt einer an und behauptet, die Erde sei eine Schreibe.’’ Überrascht sah er mich an. Dann grinste er plötzlich und zog einen Anspitzer in Form einer Weltkugel aus seiner Federtasche. Er hielt ihn in die Höhe und sagte trotzig: ,,Die Welt ist aber keine Scheibe.’’ Ich hatte große Mühe, ernst zu bleiben. Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Gelacht über diesen komischen Zufall. Mußte Daniel auch ausgerechnet eine Weltkugel als Anspitzer haben! So ein Mist! dachte ich. Hätte ich nicht ein anderes Beispiel nehmen können? Doch es war zu spät. 1 : 0 für Daniel! ‘’Komm, machen wir mal weiter’’, nahm ich den Faden wieder auf. Und wir übten weiter Rechenaufgaben.