Liu war 10, als ich sie im Fach Deutsch übernahm. Liu war chinesischer Abstammung und sollte ihre Note in Deutsch entscheidend verbessern. ‘’Hast du noch Geschwister?’’ fragte ich sie am Anfang der ersten Unterrichtsstunde. ‘’Ja, einen kleinen Bruder und der kippt immer die Milch um’’, erklärte Liu. Ich grinste. ‘’Hast du Freundinnen in deiner Klasse?’’ ‘’Ja, und meine beste Freundin ist sehr groß’’, erzählte Liu weiter. Sie war eher klein und schmal, aber sehr hübsch mit großen braunen Rehaugen und einem zarten Teint. ‘’Das liegt daran, daß sie immer so viele Orangen und Äpfel ißt’’, fuhr Liu fort. ‘’Ach, ja?’’ wunderte ich mich. ‘’Ich dachte, das sei irgendwie Vererbung.’’ ‘’Nein, nein, das liegt an den Orangen und Äpfeln.’’ Lui war sich da ganz sicher. Sie war bereits mit 5 Jahren eingeschult worden. Ich hatte kurz darauf ihre Mutter, eine sehr sympathische Frau, kurz gesprochen. Denn natürlich hatte ich mich gewundert, daßLiu mit 10 Jahren bereits in der 5. Klasse war. Und im Nachhin wundert mich die frühe Einschulung von Liu absolut nicht mehr, denn sie war überaus fleißig und begriff schnell. Ich fragte mich, weshalb sie überhaupt Nachhilfe benötigte, doch ihre Mutter erklärte, die Note 3 müsse unbedingt auf 2 verbessert werden. Okay, das war ja grundsätzlich in Ordnung. Und der Unterricht mit solch einem liebenswerten und fleißigen Mädchen machte natürlich großen Spaß. Doch es gab auch traurige Tage. Mir geht so etwas immer nahe, vor allem bei so kleinen Kindern wie Liu. Wir schrieben den 5. Dezember, einen Tag bevor der Nikolaus die geputzten Stiefel der kleinen Mäuse füllte. Liu betrat ganz normal den Raum und ich wollte sie sofort nach dem Nikolaus fragen. Also begann ich – wie immer - :’’Na, wie war es denn heute in der Schule?’’ ‘’Ja, also die Mutter meiner besten Freundin ist gestern gestorben und die Marie ist so traurig.’’ Eine dumpfe Welle sauste durch meinen Magen.‘’Ach, Gott, das ist ja schrecklich’’, entfuhr es mir. ‘’Äh, also, woran ist sie denngestorben? Ich meine, wie alt war sie denn?’’ ‘’Sie hatte Krebs und ich glaube sie war 40 oder so’’, antwortete Liu. ‘’Und in der Musikstunde haben wir alle geweint und die Lehrerin hat Marie in den Arm genommen.’’ Liu erzählte das so sachlich als sei sie irgendwie traumatisiert. Ich nahm ihre Hand. Obwohl ich mich immer bemühe, die Kinder nicht zu berühren, doch dieses Mal ging es nicht anders. ‘’Und Marie nimmt eine Weile Urlaub von der Schule, oder?’’ fragte ich, besann michdann aber eines besseren und fuhr fort: ‘’Ach, nein, das ist vielleicht gar nicht gut, dann schaltet sie ja überhaupt nicht mehr ab...’’ ‘’Genau das hat unsere Lehrerin auch gesagt’’, bestätigte Liu. ‘’Marie soll lieber zur Schule gehen und wir kümmern uns um sie, dann hat sie wenigstens ihre Freundinnen um sich.’’ Liu blieb ganz ruhig, als sie das sagte. Mein Gott, dachte ich, wie erwachsen und verständig sie reagiert! Doch mir war klar, daß diese Worte mit einer großen Verdrängung einhergingen. ‘’Wie kriegt man Krebs?’’ unterbrach Liu meine Gedanken. Ich holte tief Luft. Langsam begann ich zu antworten, fragte mich aber, wie ich ihr das überhaupt erklären könnte. ‘’Ja, weißt du, technisch gesehen trägt jeder Mensch eine Menge Zellen in sich.’’ Liu nickte, das wußte sie. ‘’Und manche der Zellen werden zuweilen böse, also es gibt dann gute und schlechte Zellen. Und die schlechten Zellen entzünden sich sozusagen und zerstören die guten’’, fuhr ich holprig fort. ‘’Aber warum kriegt man das?’’ Liu beschäftigte das Thema natürlich weiter. Ich machte eine verneinende Kopfbewegung und sagte: ‘’Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Alle Menschen, ob gut oder böse, können Krebs bekommen. Es ist halt eine Krankheit, die noch nicht vollkommen erforscht ist.’’ ‘’Bei uns gab es noch nie Krebs’’, fuhr Liu fort. Ich versuchte abzulenken. An regulären Unterricht war heute sowieso nicht zu denken. Ich wußte, daß Lius Geburtstag anstand, deshalb sagte ich: ‘’Weißt du was? Wir machen heute nur noch etwas Schönes. Was hältst du davon, wenn wir die Einladungen zu deinem Geburtstag formulieren? Ohne Deklination oder Konjugation?’’ Liu nickte heftig und wir machten uns an die Arbeit. Ich hatte noch zwei weitere Schüler nach Liu zu betreuen und war zwar froh, mich durch die Konzentration auf die anderen Schüler ablenken zu können, doch das Gespräch mit Liu wirkte natürlich noch lange nach.
Adisa ist 7 Jahre alt und das jüngste von drei Geschwistern einer afrikanischen Familie, die ich betreue. Am Anfang meines Auftrages vor einigen Monaten hatte Adisa fast noch etwas Kleinkindhaftes an sich. Doch im Moment wird sie mit jeder Woche mädchenhafter. Sofern ich noch eine Weile bei der Familie bleibe, kann ich sie sogar ein wenig aufwachsen sehen. Das würde mich sehr freuen. Adisa lernt gerade schreiben. Ganz langsam malt sie die großen Buchstaben in ihr Heft und bemüht sich, richtig ordentlich zu schreiben. Das gefällt mir als Nachhilfelehrerin natürlich und ich lobe sie dafür. Überhaupt hat Adisa etwas wirklich Niedliches an sich, sie wird bestimmt einmal eine hübsche Frau. Und ich freue mich immer auf den Unterricht mit ihr, weil sie so bemüht und lernfreudig ist. Das macht dann immer richtig Spaß. Doch am meisten hat mich berührt, was letzte Woche geschehen ist: Es läutete an der Wohnungstür und Adisas Bruder, den ich immer nach ihr unterrichte, öffnete die Tür. Ein junger Mann schob einen Rollstuhl in der Flur – so viel konnte ich von meinem Platz aus sehen. ‘’Der ist für meinen Papa’’, erklärte Adisa, ohne daß ich überhaupt gefragt hätte. Ich weiß ja, dass es einen Mann geben muss, denn wir hatten das erste Telefongespräch geführt, wo die Nachhilfe für die Kinder vereinbart worden war. Allerdings habe ich den Vater noch nie gesehen, er ist nie vor Ort, jedenfalls nicht, wenn ich unterrichte. Es ist immer die Mutter, die dann irgendwann von der Arbeit nach Hause kommt und nach dem Unterricht ein paar Worte mit mir wechselt. Und sie scheint die drei Kinder ganz allein großzuziehen. ‘’Der Rollstuhl ist für deinen Papa?’’ fragte ich nun doch. ‘’Ja’’, bestätigte Adisa, ‘’weil er so kranke Hüften hat. Aber er ist grad verreist und kommt erst Ende des Monats zurück. Und wenn er hier ist, wird er wieder operiert, ich glaube, das siebte Mal.’’ ‘’Au Mann, das tut mir aber leid für ihn’’, sagte ich. ‘’Ja, das ist nicht schön’’, fuhr Adisa fort. ‘’Aber wenn ich groß bin, werde ich Ärztin und dann kann ich meinem Papa bestimmt helfen.’’ Ich schluckte kräftig, der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. ‘’Das ist eine sehr gute Idee’’, sagte ich etwas gepresst und bemühte mich, mit dem Unterricht fortzufahren. Vergessen werde ich dieses Gespräch bestimmt nie und ich bin mir sicher, Adisa wird einmal eine hervorragende Ärztin werden.
Daniel konnte weder richtig schreiben noch rechnen. Ich bin ja eigentlich Nachhilfelehrerin für Deutsch, aber in seinem Fall machte ich eine Ausnahme. Daniel war 12 Jahre alt und hatte Mühe, 5 x 6 auszurechnen. Aufgaben mit Pluszeichen gingen so lala, aber... ‘’Minus mag ich gar nicht’’, eröffnete er mir gleich zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde. ‘’Aha’’; sagte ich. ‘’Aber was machst du denn, wenn du im Laden stehst und nicht weißt, wieviel Du für dein Geld einkaufen kannst, weil du nicht ausrechnen kannst, ob es reicht?’’ Daniel zuckte die Schultern. ‘’Aber ohne zu rechnen kannst du doch nicht durch’s Leben gehen’’, fuhr ich fort. ‘’Dir kann ja praktisch jeder etwas vormachen. Zum Beispiel: Da kommt einer an und behauptet, die Erde sei eine Schreibe.’’ Überrascht sah er mich an. Dann grinste er plötzlich und zog einen Anspitzer in Form einer Weltkugel aus seiner Federtasche. Er hielt ihn in die Höhe und sagte trotzig: ,,Die Welt ist aber keine Scheibe.’’ Ich hatte große Mühe, ernst zu bleiben. Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Gelacht über diesen komischen Zufall. Mußte Daniel auch ausgerechnet eine Weltkugel als Anspitzer haben! So ein Mist! dachte ich. Hätte ich nicht ein anderes Beispiel nehmen können? Doch es war zu spät. 1 : 0 für Daniel! ‘’Komm, machen wir mal weiter’’, nahm ich den Faden wieder auf. Und wir übten weiter Rechenaufgaben.